In einer beeindruckenden Rede haben Aida Bećirović, Leiterin unseres Büros in Sarajevo und Ratsmitglied Selma Gusić beim Festakt zum 30-jährigen Jubiläum von Schüler Helfen Leben nicht nur einen Rückblick gewagt auf die Wirkung von 30 Jahren Einsatz in Südosteuropa, sondern auch Ideen und Ansätze für die Zukunft SHLs entworfen.

„Dass ich diese Geschichte überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben“.

Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben, sind auch der Grund, warum wir heute Abend zusammengekommen sind. Genauso wie Sasa Stanisic in seinem Roman „Herkunft“ über Zugehörigkeit schreibt, will auch ich heute gemeinsam mit euch darauf zurückblicken, wo wir, Schüler Helfen Leben, herkommen, wo wir sind, und wo wir noch hinwollen.

Abschottung von allem, was anders ist, ist leider seit 30 Jahren meist Alltag in Südosteuropa, wo der Alltag oft von Nationalismus, Hass und Perspektivlosigkeit geprägt ist. Der Verlust von geliebten Familienmitgliedern und Freunden in den 90ern, die Kriege und Krisen, die folgten, ebneten den Weg dafür, dass junge Menschen heute zu politischen Spielbällen geworden sind. Ihnen wird durch Segregation in Kindergärten, Schulen und Universitäten anstatt wichtigen Inhalten oftmals auch Hass auf andere beigebracht, anstatt einander zuzuhören und gemeinsam zu leben und zu lernen.

Jungen Menschen zuhören, ist genau das, was sich Schüler Helfen Leben vor 30 Jahren auf die Fahne geschrieben hat. Aber wohin sind wir in den letzten 30 Jahren gekommen?

Jugendliche, die solidarisch mit Gleichaltrigen in prekären Situationen sind, sind seit 30 Jahren unsere Motivation. Alles fing an mit jungen Menschen, die in den Autos ihrer Eltern Hilfsgüter und Schulmaterialen in Richtung Bosnien fuhren. Genauso wichtig wie diese konkrete Hilfe war aber auch die Tatsache, dass sich jemand für die Jugendlichen in Südosteuropa interessierte und sich für sie einsetzte, was zum Beispiel in Bosnien heute noch hoch anerkannt ist. Noch immer wird von den damaligen Freiwilligen als „Goldene Engel“ gesprochen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren.

Aber wir haben damals nicht aufgehört, als der Krieg zu Ende ging. Wir haben durch unsere Arbeit, Kontinuität und Bereitschaft, mit den jungen Menschen zu reden und ihnen zuzuhören, anstatt sie einfach in Schubladen zu stecken und über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden, bewiesen, dass Jugendliche gemeinsam viel bewegen können, auch wenn es vor allem von der Gesellschaft und Politik in Südosteuropa nicht anerkannt und gefördert wird.

Aufeinander zugehen, anstatt sich abzuschotten, ist der Grundgedanke unserer Versöhnungsarbeit. In den letzten 30 Jahren sind wir in Bosnien gemeinsam Probleme angegangen, mit denen sich junge Menschen Tag für Tag auseinandersetzen müssen. Ethnische Segregation im Schulsystem, geringe Mobilität, kaum Mitspracherecht, Perspektivlosigkeit und der oftmals darauffolgende Weg ins Ausland sind nur wenige Konflikte, die seit dem Krieg den Alltag junger Menschen in Bosnien und Herzegowina prägen.

Aus diesen Gründen fragen wir uns seit 30 Jahren gemeinsam mit jungen Menschen: Wie können wir zusammen Veränderung schaffen?

Die Antworten auf diese Fragen sind genau wie wir, unterschiedlich, und doch haben wir viele erfolgreiche Initiativen, Programme und Projekte durchgeführt, die auf verschiedenste Art und Weise zum Empowerment junger Menschen in Bosnien und Herzegowina beigetragen haben.

Da wäre zum einen ASuBiH, Bosniens landesweite Schülervertretung, die 2016 gemeinsam, unabhängig von ihrer Herkunft, ihre Stimme erhoben und erfolgreich dagegen protestiert haben, anhand ihrer Ethnizität in zwei verschiedene Schulen aufgeteilt zu werden.

Da wäre zum anderen ONAuBiH, Bosniens Jugendpresseorganisation, die jungen Menschen eine Plattform bietet, wichtige Themen anzusprechen, die sonst nicht thematisiert werden. Jugendliche aus dem ganzen Land kommen in diesen demokratischen Organisationen zusammen und arbeiten Hand in Hand an Veränderung und Verbesserung, und teilen ihre Erfahrungen und Erfolge zum Beispiel im SAME-Network oder anderen europäischen Netzwerken.

Ohne ihr Engagement und ihren Willen, wäre es sicherlich nicht möglich gewesen, Jugendliche aus verschiedenen Regionen Europas zu vernetzen und ihnen die Möglichkeit zu geben, Freundschaften zu schließen.

Doch auch ohne unsere mehreren tausend Jugendprojekte, die wir über die Jahre hinweg unterstützt haben, wären wir heute nicht da, wo wir sind. Egal ob kleine Projekte, wie zum Beispiel das Einrichten von Jugendzentren von Jugendlichen für Jugendliche, bis zu Initiativen wie die der Vergessenen Kinder des Krieges, die wichtige Gesetzesänderungen erreicht haben: An erster Stelle steht immer das Engagement junger Menschen, die gemeinsam etwas erreichen wollen.

Wir glauben fest daran, dass die vielen zivilgesellschaftliche Bewegungen und Initiativen von jungen Menschen der einzige Ausweg aus dem nationalistischen, diskriminierenden und perspektivlosen Alltag sind, weshalb wir uns sicher sind, dass wir auch in der Zukunft weiter gemeinsam Veränderung schaffen können und nur Solidarität mit anderen uns weiterbringt.

Nach 30 Jahren Engagement, Arbeit und Weiterentwicklung ist es nun an der Zeit, uns zu fragen, wo wir hinwollen. Die Bilder, die auch uns Anfang des Jahres aus der Ukraine erreichten, erinnerten uns sofort an unsere eigenen Anfänge, an junge Menschen, die nicht zur Schule gehen können, weil Krieg herrscht. Junge Menschen, die voller Energie am Anfang ihres Lebens stehen und plötzlich mit Perspektivlosigkeit konfrontiert werden.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat große Auswirkungen auf die Bevölkerung dort, auf die ganze Welt aber auch auf die gesellschaftspolitische Situation in Bosnien und Herzegowina.

Der Krieg ist zwar schon fast 30 Jahre her, aber die politischen Spannungen sind immer noch vorhanden und wurden durch den Kriegsausbruch noch weiter verstärkt. Dementsprechend besorgt haben wir auch auf unsere Arbeit mit jungen Menschen geblickt, die nach den Pandemiejahren nun auch mit der Angst vor einem neuen Krieg leben müssen.

Die Spaltung der Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina durch den Ukrainekrieg ist ein weiteres Problemfeld, mit dem wir uns in unserer Organisation befassen müssen, ohne dabei unsere von vielen anerkannte und respektierte Arbeit zu gefährden.

Genauso wie sich junge Menschen damals solidarisch mit Gleichaltrigen in Südosteuropa zeigten und noch immer zeigen, müssen wir auch heute gemeinsam alles dafür tun, um als Organisation ein vertrauensvoller und langfristiger Partner für Jugendliche da zu sein, nicht nur jetzt, während der Krieg noch im Gange ist, sondern vor allem auch danach. Perspektiven aufzeigen, Freundschaften ermöglichen und Bildung fördern sind die Grundsteine, die wir auch im Kontext des Ukrainekriegs legen müssen, um jungen Menschen mit unserem Beitrag Zukunftschancen zu eröffnen und gemeinsam den Weg in Richtung einer demokratischen und gerechteren Gesellschaft zu gehen.

Wir haben durch unsere eigene Arbeit in Bosnien und Herzegowina erlebt, wie unfassbar wichtig es ist, in einer Krisensituation von Anfang an für Jugendliche da zu sein und sie langfristig und auch nach dem Ende des Konflikts zu unterstützen. Wir hoffen, dass unser aller Erfahrung aus den letzten 30 Jahren auch in diesem Fall hilfreich sein kann, jungen Menschen Unterstützung zu geben.

Um schlussendlich nochmal auf unsere Herkunft zurückzukommen: Wir haben die letzten 30 Jahre zugehört und werden auch in Zukunft versuchen, weiter zuzuhören und jungen Menschen die Chance zu geben, aktiv zu werden und ihre Stimme zu erheben. Unsere Geschichte ist jedoch noch nicht zu Ende, wie Sasa Stanisic in seinem Roman treffend formuliert:

“Die Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, sind quasi unendlich. Da triff mal die beste. Und: Hast du nicht noch etwas vergessen? Immer hast du etwas vergessen.”

Wir hoffen, dass auch unsere Geschichte noch viele Jahre lang von den unterschiedlichsten Menschen erzählt wird. Wir werden sie so lange weiterschreiben, bis niemand mehr vergessen wird.

Foto Laurent Hoffmann, www.jagaland.de